Gantry 5

Über vier Jahre hin habe ich Martin Luther King zuerst in New York und später in Chicago (bis 1966) regelmässig getroffen. Ich war für ihn einerseits ein weisser Schutzgeist, andererseits ein Verdächtiger (von der CIA eingeschleust), denn sonst gab es in der Bürgerrechtsbewegung keine Weissen, weil jeder Weisse (typische Verallgemeinerungen), sofern sie Amerikaner waren, den Schwarzen ihre Grundrechte verwehrten. 

 

Ich kam über den Afrikabezug als einer, der ab 1961 in Harlem, NY, lebte, zu King. Es waren die Sechzigerjahre, als ab 1960 eine Kolonie nach der anderen auf dem afrikanischen Kontinent zu einer neuen Nation erklärt wurde. Für die amerikanischen Schwarzen war dieser historische Vorgang bei den meisten unbekannt und bei anderen einfach irrelevant.

 

MLK liess alle Teilnehmer an Märschen vorausgehend auf Kursen über den gewaltlosen Widerstand als einer Spiritualität einführen. Er wollte unbedingt jegliche Gewaltausbrüche unterwegs vermeiden. Ich schlug King vor, in diesen Wochenendkursen etwas über die Vorgänge in Afrika einzubauen. Meine Begründung war, dass diese Vorgänge der Entkolonisierung auf dem afrikanischen Kontinent und anderswo animierend auch für die Schwarzen Amerikas sein könnten. Er erwiderte, dass er niemanden kenne, der zu solch einer Information fähig sei. Er erlaubte mir aber, dass ich solches zuerst einmal in Harlem ausprobiere.

 

Ich kann aus trauriger Erfahrung bezeugen, dass bei den Black Americans weder eine konkrete Solidarität mit ihrem einstigen Kontinent vorhanden war noch ein historisches Wissen. Sie lebten von Mythen. Die meisten gingen auf das Alte Testament und eine bereits verklärte Sklaverei zurück. Afrika bedeutete für die meisten Schwarzen Äthiopien mit Haile Selassie. Ein Land kannten sie ab und zu; das war Liberia, wo nach ihrer mythischen Vorstellung, in Amerika befreite Sklaven Demokratie wie Missionare eingeführt hatten.

 

Als 1964 in Südafrika der Rivonia Treason Trial mit der Verurteilung Nelson Mandelas zuende ging, konnten sich die US Schwarzen daraus keinen Reim machen. Als ich MLK darauf aufmerksam machte, es wäre sinnreich, eine Bürgerrechtsvertretung als Beobachter zum Prozess zu schicken, erwiderte er – wohl zu Recht:  „Ich will unsere Bewegung nicht  einem kommunistischen Verdacht aussetzen.“ Er meinte, ich solle hingehen, denn ich sei weiss und mir könne niemand etwas unterstellen.

 

Daraus kann ich vorerst zwei Schlüsse ziehen:

  1. MLK war wie die allermeisten Amerikaner ein ahistorisch denkender Mensch; auch er lebte grundsätzlich von Mythen, die eine Mischung von Bibel und vernebelten Fakten waren.
  2. Die Schwarzen waren längst, ohne dass sie sich dessen gewahr waren, im Kopf und alltäglichem Verhalten Amerikaner – genauso wie die  eingewanderten Italiener, Polen oder Deutschen geworden. Sie verdrängten ihre Vergangenheit, resp. ihre Geschichte total.

 

Fahre ich weiter, dann muss ich sagen, dass die Denkweise der Schwarzen in den Südstaaten (genauso wie bei den Weissen) ein Kreisen um religiöses Gedankengut, das aufgrund von selektiv ausgewählten und meist fast bombastisch überhöhten biblischen Geschichten und dramatischen Fluch- Predigten entstanden war. Viele der Schwarzen konnten kaum lesen, also wurden ihnen die Geschichten aus dem Alten Testament, die gefielen und immer wieder ankamen, erzählt und weitererzählt. MLK sagte mir einmal, dass er vom Neuen Testament praktisch keine Ahnung habe, denn ihm seien seit der Jugend immer wieder die Geschichte entweder von dem Sklavendasein der Juden in Ägypten und dann dem gloriosen Auszug (Exodus) und dem langen Gang durch die Wüste oder dann von den verschleppten Juden zwischen den zwei Flüssen Mesopotamiens und den Tränen an diesen Flüssen erzählt worden. Hätte er Bob Marley gekannt, er hätte bestimmt behauptet, dass dieser die gesamte Offenbarung in Songs wiedergäbe.

 

Doch war MLK nicht ein theologisch erzogener Baptistenprediger? Ja, aber die Schwarzen hatten stets (ausser bei Katholiken) eine von den Weissen getrennte Kirche. Deshalb gibt es Black Baptist, Black Methodist, u.a. schwarze Kirchen. Seine theologische Ausbildung war letztlich – wie er selbst sagte – eine Predigtausbildung. Als Vorbilder nannte er Jesus Christus, Abraham und Mahatma Gandhi. Später entdeckte er Paul Tillich und Reinhold Niebuhr. King hatte kaum Zeit, Bücher und Abhandlungen zu lesen und gar zu studieren. Er nahm stets – wie er sagte – „im Vorübergehen“ auf. Dazu kamen mit der Zeit viele und darunter vor allem Theologen, die ihm etwas beibringen oder Rat geben wollten. Amerikas Theologen, mit wenigen Ausnahmen wie Tillich, waren von der Angst gezeichnet, dass King Kommunist würde.

 

Am Ende der Bürgerrechtsbewegung entstand erst eine Schwarze Theologie, die dann mit James Cone (geb. 1938) auf einen ersten Höhepunkt kam. Sein Klassiker Black Theology of Liberation (1990) erwähnt MLK als „einen pragmatischen Wegbereiter“ und nennt ihn sogar als „der erste Befreiungstheologe der Schwarzen“. Natürlich meint er seine Reden, die letztlich Predigten sind. Cone sagte „MLK habe durch seine Taten Offenbarung erzeugt“.

 

MLK besass die Gabe, seine schwarze Anhängerschaft mitzureissen. Er war in solchen Momenten charismatisch. Deshalb nahmen mehrere Zuhörer an, Gott spreche direkt zu ihnen.

 

 Sein Erfolg basierte auf dem Dualismus: hier gut, dort böse. MLK differenzierte nicht. Seine Anhänger erwarteten solches nicht und hätten es eher als Verunsicherung empfunden.

 

Auch sein Konzept der Gewaltlosigkeit war nicht sehr tief verankert. Er verwies einfach auf Gandhi ohne viel von seiner und einer Geschichte hinter dieser Idee zu kennen. MLK ging es primär um die Verhinderung von Gewalt unter Schwarzen gegenüber Weissen, denn das hätte sofort sein Unternehmen in Misskredit gebracht. Es war bei ihm mehr Taktik und weniger Spiritualität.

 

Was auf keinen Fall ausgelassen werden darf ist die damalige Ausstrahlung des Präsidenten John F. Kennedy, Präsident der USA von 1961 bis zur Ermordung 1963. Mit JFK war ein ganz neues geistig-politisches Klima entstanden. Auch von Rom her wehte ein neuer Wind. Dieser Zeitgeist half MLK enorm.

 

Als dann Mitte der Sechzigerjahre die Black Power Bewegung entstand, wurde King hilflos. Er wich aus, um die kaum tiefer durchdachte Hausbesetzungskampagnie rund um die weissen Vororte von Chicago zu starten. Da lief er schnurstracks ins Messer der Mafia.

 

MLK gab sich einerseits spirituell und andererseits war er stark vom Kapitalismus geprägt. Für ihn sollte sofort nach dem Stimmrecht auch die materielle Frucht vom Baum fallen. Er sprach gerne wie andere über Autos über „a magnificent home“. So war Chicagos Hausbesetzung eigentlich logisch.

 

MLKing war auch sexuell verklemmt. Einerseits war er überzeugt, dass Onanie „eine Sünde zur Hölle“ sei, andererseits ging er ohne Gewissensbisse ins Bodell.

 

Niemand bezweifelt die Grösse Kings, aber es ist gut zu wissen, dass es dazu Zeitgenossen und einen bestimmten Zeitgeist benötigte. MLK war gewiss ein Grosser, jedoch einer mit sehr vielen Widersprüche lebte. So gibt es sachlich betrachtet einerseits (und vor allem für Amerikas Schwarze) ein offenes heldenhaftes Leben und andererseits ein kleinliches, sogar verworrenes Innenleben in einem Mann voller Begrenztheiten.

 

Heute, 2013, ist gerade aus Amerikas Frust heraus, King zu einem Mythos hochstilisiert worden. Die Bürgerrechtsbewegung war bereits vor seiner Ermordung gestorben. Daran trägt gewiss auch MLK seine Schuld, da sein Konzept zu wenig theologisch tief ging, ja, sogar kleinlich war und sein Enthusiasmus höchstens momentan und ohne Nachhaltigkeit blieb.

 

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28. Juni 2013