Gantry 5

Ein aktualisierter Sonnengesang

 

1. Schein bescheiden

Sonne
überscheine alles
lass jedoch das Überhebliche
Schon andere
verloren ihr Wesen
im Wahn ihrer Macht

Sonne
gib der Nacht mehr Zeit
unterbrich die Träume nicht so früh
lass auch Dunklem etwas Raum
Helles gibt es schrill genug

Sonne
ärgere dich doch nicht
wenn einige dich aus der Steck
und Dose zapfen

Sonne
gönn den Kindern
einzweimal im Jahr die Licht
Kugeln weihnachtlich am Baum

 

2. Sei doch nicht so direkt

Sonne
wenn du die Erde necken willst
geht es indirekt doch besser
du magst zwar leichte Nebel nicht
und frisst sie sofort auf
ohne je zu ahnen
welche Geheimnisse
du vergabst

Sonne
du kannst grausam sein
wenn du sengst
in der Wüste und
besonders am Rand
wo du nichts duldest

Sonne
du kennst Direktheit nur
und kein Dazwischen
aber spürst du nie
wie Eifersucht
dir, ja dir
verbirgt das Schönste?

 

3. Gib anderen mehr Raum

Sonne
ruh etwas mehr
gib den Schatten
gib der Dämmerung
mehr Zeit

Sonne
nimm öfters dir ein Bad
spiele mit dem Meer
du Eifersüchtige
geh nicht bloss über Land
lass auch etwas mehr
Platz für Tau und Regen

Sonne
lass davon ab
mach unsere Nächte nicht kürzer
friss nicht alle Dunkelheit
lass uns das Innige

 

4. Flucht oder Neutralität

Sonne
spiel nicht die Unschuld wie naiv
die Sachlichkeit der Beleuchtung
oder gar die Neutralität der Güte

Sonne
wer so lange zuschaut
über allen Wolken schwebt
kommt etwas Farbe ab

 

5. Mach nicht alles selbst

Sonne
immer mehr Menschen
fliehen in die Nacht
wo es Neues gibt
nicht wie unter dir

Sonne
du kommst zu direkt ans Licht
bist zu sonnenklar
zu hell als andere Sonnen

Sonne
verfinstere dich
für einige Zeit
gib der Nacht die Illusion
ein besserer Himmel zu sein
lass all das Pack verdunkeln
ruhig es verrotten
verseng es nicht
nicht du es

 

6. Etwas mehr Versteckspiel

Sonne
kehre mehr zum Spiegelbildchen
dem Indirekten zurück
geh ganz zart
übers Land
und hinein in Bergtäler
lern wieder das Verstreckspiel
der Kinder
hinter deinem Schatten

 

7. Sonne unter Sonnen

Sonne
an den Tag kamen
hinter deinem Rücken
weitere Sonnen
und du?
Mit Finsternis und einem Aus
hast du
wie ein Kind
gedroht

Sonne
lange gaben Menschen
dir
einen Sonderstatus
gut
für dich
Pharaonen und Päpste
einst
aber jetzt?

 

8. Warst du denn für alle da?

Sonne
Königen dientest du stolz
Sklaven in Knästen sahst du nie
Elend in Hinterhöfen tratst du
an Schatten lächelnd ab

Sonne
preisen liesst du dich
als ob alles Gute unter dir nur wächst
warum so scheinheilig?
gabst Dieben und Verbrechern kein Licht
vielleicht wären anders sie geworden

Sonne
mit allen Titeln geschmückt
der Götter und von Königen
aber bei keiner Revolution
im Keller warst du dabei

Sonne
bist auch du bestochen
mit Glitter, Glanz und Gloria
königlich und päpstlich
aber aber
stehst du vor hohler Allmacht

Sonne
ein paar Gasthäuser
haben deinen Ruf gerettet
die Sonnen im Land
bis zur Stunde der Polizei
ein Helles für alle

 

9. Auch wenn du alles bist und hast

Sonne
in dir brennt
die lange Geschichte
aller Menschen
ohne dass es dich verändert


Sonne
in dir ruht
die ganze Unruhe
aller Zeiten
ohne dass es dich berüht

Sonne
in dir scheint
tröstlich
die Zukunft

 

10. Vergiss ob deiner Ewigkeit nicht

Sonne
weisst du eigentlich
wie gross
die Herzen der Menschen sind

Sonne
vergiss ob deiner Grösse nicht
dass alle Herzen
von deinem Feuer
deine Kinder sind?

 

9. Jahrzeitenzyklus

Winter

Sonne
wenn dich das Eis auslacht
wirkungslos ist deine Kraft
Schneeflocken parodieren dich
der Mond zusammen mit dem Schnee
in der Nacht
glittert alles so
dass am Tage du
ganz verwaschen wirkst

Sonne
wenn langsam wiederkehrt die Kraft
beim Holzen mit Geruch vom Sägemehl
selbst der Mist beginnt zu tränen
du die ersten Sträucher
knospen lässt

Sonne
wenn du kommst
etwas gequält
von Nacht und Nebel
Schnee und Eis
du als Sieger
wieder an den Tag

 

Frühling

Sonne
wenn Menschen hocherfreut
dich in Schlüsselblümchen
später fett als Dotterblumen
des Frühlings neue Kraft
erstrahlen sehen
am geschützten Bort
in deiner Ecke am Knie des Flusses

Sonne
wenn Ostern naht
mit dir es geht
Spazieren übers Feld
und bereits schon erste Kirsch
Bäume blühen rötlich weiss
und alle wissen
es kommt von deiner neuen Kraft

Sonne
dann folgt
erst dann
lang ersehnt
neu
ein Jahr

 

Sommer

Sonne,
selbst du versuchst, der Zeit dich anzupassen
auch du weisst heute haargenau
dass zu den Städtern anders du
als zu Bauern scheinen musst
Diese neuen Menschen
wollen Abwechslung vermehrt
Und so ist dein Sommer
nicht mehr was er lange war
weniger Weizenfelder
monokulturell dafür die Sonnenblumen
weniger Linden
Autostaus verstehen keine Hecken

Sonne,
im Sommer
in Weizenfelder weltweit
da leg dich hin
und bade die Gleichheit aus
Lass andere davon
Märchen erzählen
die Schlagworte vom Hunger
den du minderst
glaubst du all die Lügen
oder ist es nicht die Eitelkeit
des alten Herrn?

 

Herbst

Sonne,
du begreifst am besten den Herbst
bist stolz auf dich
es sei die Zeit
die alles zum Reifen bringt

Sonne,
die Segler gehen auf See
es sei die Zeit
wo du selbst die Zügel der Winde hältst

Sonne,
du packst soviel Lust
in Trauben, Obst und Beeren
dass Menschen Mut bekommen
trotz grauer Nebel
ab und zu guckst du durch
lächelst gar verschmitzt
Habt euer Prost
und alle wollen weiterleben

Sonne,
du nimmst ab
immer kürzer werden Tage
du ziehst ab
alles ist mit dir zufrieden
du kehrst heim
alles kam unter
du fährst weg
in das Versteck des Winters -
die Keller

 

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Al Imfeld©
Febr. 1997
lit-al/ sonne