Gantry 5

Ngugi wa Thiong’o, Träume in Zeiten des Krieges.

Eine Kindheit. Aus dem Englischen mit Nachwort von Thomas Brückner. AI Verlag, München 2010. 264 S. 22,80 Euro/sFr 41,00 ISBN 978-3-940666-15-4

 

Buchbesprechung Al Imfeld      Buch Kaufen

Es gehört wohl wesentlich zum afrikanischen Schriftsteller, dass er mit seinem Dilemma oder den Widersprüchen als Schreibender klar kommen will; er geht stellvertretend seiner Gesellschaft nach, wie ein Augur, um auf-zu-klären. Diese Literaten haben einen ganz anderen Hintergrund als die vom Rest der Welt. Afrika kam erst über den Kolonialismus zur Schrift, dennoch lebt manches vom Oralen weiter. Ein paar Privilegierte durften in eine Missions- oder Kolonialschule, die beide ein ganz und gar manipulatives Curriculum besassen, die das Einheimische vernachlässigten und sowohl die Geschichte als auch die Sprache der entsprechenden Kolonialherren einpeitschen sollten. Die sog. Schulung fand militärisch und mit Schlägen, mit Demütigungen und Respektlosigkeit statt. Diese Schulgeschichte hat bereits den Kameruner Mongo Beti (1932-2001)1956 in seinem Roman Der arme Christ von Bomba angeklagt und gegeisselt. Auf ganz andere Weise ging dieses traumatische Thema Chinua Achebe (geb. 1930) mit seiner Essaysammlung The Education of a British-Protected Child (2009)an; darin durchleuchtet er Sprache, Schule und Umgangsstil zur Kolonializeit gnadenlos. Er öffnet wohl vielen erst jetzt die Augen.

Ngugis Buch – würde der europäische Literaturkritiker sagen – ist eine Mischung von Literatur und Geschichte oder Geschichte literarisch mit Hilfe von historischen Ausschnitten aufgebaut und gestaltet. Wer eine traditionelle Kindheitsgeschichte sich wünscht, lese seine frühesten Werke rund um den Mau-Mau-Kolonialkrieg, etwa Weep not, Child (1964)oder The River in Between (1965). Man wagt zu behaupten, Ngugi benutzt sich selbst, um ein allgemeines Phänomen mit all dem, was dazwischen liegt, zu klären: der Hunger nach Bildung, die eben zeitbedingt nur über die (koloniale) Schule möglich ist; die Freude an der Sprache, sowohl am Erzählen als auch am Schreiben, und die langsame Entdeckung, dass Bildung horrende Widersprüche aufdeckt, die Betroffene in die Verunsicherung führen kann. Er gibt Einblick in Religion und ein Christentum, das in vielen und verschiedenen Formen (anglikanisch, orthodox, katholisch, erweckerisch) eindringt. Wer zur Schule wollte, musste ein entsprechender Christ werden.

Wer es in der Zwischenzeit bereits vergessen hat, der erlebt hier bis in alle Knochen hinein, wie zynisch und grausam Kolonialismus war. Da haben kenianische Schwarze für die Briten im asiatischen Osten gekämpft. Sie kommen heim und werden von denselben Briten verlacht. Oder der Zynismus britischer Politiker, Winston Churchill eingeschlossen. Von einer später immer wieder behaupteten Demokratie-Erziehung ist keine Brise vorhanden. Gewalt und Grausamkeit, Landraub und Vertreibung, ein gegenseitiges Ausspielen von Minderheiten: Alles kommt hier erneut und grauenhaft anschaulich an den Tag. Was schon ausser Wunde auf neue Wunden kann aus solchen Jugenderlebissen hervorgehen? Kenias folgende Geschichte ist bis zu den Führern Kenyatta, arap Moi und dem heutigen hilflosen Präsidentenduo als Abbild und Folge davon in vielem begreifbar. Gottlob gibt es immer wieder ein paar Ausnahmen. Ngugi ist eine, auch wenn eine eigenwillige. Und bis heute mit den zwei Sprachen Gikuyu und Englisch unversöhnt.

Vielleicht mag das weit verzweigte Familiensystem mit mehreren Frauen und verschiedenen Brüdern übertragen auch auf andere soziale Verhältnisse der Welt, oder das Nebeneinander von Religion, zum Begreifen der politischen und kulturellen Systeme etwas beitragen.

Immer wieder gibt es einzigartige Szenen. Eine davon ist die Beschreibung der Neugierde (S.212): Wie zur Zeit des Ausnahmezustandes Nachrichtens gesammelt wurden mit vor indischen Läden weggeworfenem Zeitungspapier, das zum Einpacken benutzt wurde oder sogar auf Müllplätzen gesammelten Papierfetzen. Selbst Toilettenpapier der Europäer vermochte etwas zu verraten.

Heute unvorstellbar, dass einst „zwischen mir und der Oberschule nur ein paar Schuhe steht“. Die Schuhe ziehen sich durch die ganze Jugend hindurch. Und als der nach Schule hungernde Bub sie endlich erhielt, war seine Jugend zu Ende.

Ein letztes Bild. „Ich fahre mit dem Zug zur Schule...aber es ist, als sollte ich mit dem Zug ins Paradies fahren. Dieser hier ist sogar noch besser. Er wird meine Träume in Zeiten des Krieges mitnehmen.“ (233) Und mitten im Träumen kommt schon wieder eine Schikane dazwischen. Und? „Ich stehe da, mit meinem Gepäck auf dem Bahnsteig und sehe zu, wie der Zug mit meinen Träumen, aber ohne mich, davonfährt, mit meiner Zukunft, aber ohne mich, bis er verschwunden ist.“

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